Auf der Oberbaumbrücke zwischen Berlin-Kreuzberg und -Friedrichshain steht eine Couch. Darauf sitzen Jugendliche, vor ihnen ein Tisch mit einer schmuddeligen Decke und einem Schild, das vorbeilaufende Passant*innen um Spenden bittet. Es ist bereits dunkel und die kälter werden Temperaturen deuten auf den beginnenden Herbst hin. Die meisten Passant*innen gehen einfach an ihnen vorbei, ein paar wenige werfen ein paar Münzen. Niemand bleibt stehen, erkundigt sich oder kommt ins Gespräch. Dabei ist es erst ein paar Tage her, dass nur einen Steinwurf von der Obaumbrücke entfernt Berlins “Favela”, die Cuvrybrache, geräumt wurde und die nunmehr Obdachlosen sich neue Unterkünfte suchen mussten. Wir sprachen eine kurze Zeit mit ihnen und erkundigten uns, wie es ihnen geht.
Fast zwei Jahre lang hatten Menschen auf dem besetzten Gelände der Cuvrybrache in Berlin-Kreuzberg in selbst zusammen gezimmerten Häusern gewohnt. Flüchtlinge, Wohnunfgslose, Freiheitssuchende und zugewanderte Sinti und Roma bauten sich aus allem was sie finden konnten Behausungen. Letzten Donnerstag dann die faktische Räumung – nachdem ein paar Hütten in Brand gesteckt worden waren, mussten alle Bewohner*innen evakuiert werden. Die Polizei ließ sie anschließend nicht mehr auf das Gelände. Gemeinsam mit einem privaten Sicherheitsunternehmen, das von dem Besitzer des Geländes, der Immobilienfirma Süsskind, angeheuert wurde, verhinderten sie jeglichen Zutritt.
“Niemand interessiert sich für uns.”, sagt Fred*. “Für die Flüchtlinge in der Gerhart-Hauptmann-Schule haben sich alle interessiert, aber für uns niemand.” Er sitzt mit zwei anderen, die sich eng aneinandergeschmiegen, auf der Couch, wartet auf Spenden und hört dem Gitarristen zu, der neben ihnen für die Vorbeihuschenden spielt. Fred hat eigentlich eine Wohnung, aber er möchte sich nicht einsperren lassen, im normalen Leben wird ihm langweilig. Er betrachtet sich selbst als eine Art Aussteiger, der dem Leben aus Leistung, Konsum und Konkurrenz abgeschworen hat. Außerdem möchte er auf seine Freund*innen auf der Straße aufpassen können. Die Leute
Neben ihm sitzen zwei, die sich unter einer Decke gegenseitig warm halten. Mario* hat ab und an seine Augen offen, während sich seine Freundin stumm an seine Seite klammert. “Die Sinti und Roma von der Cuvrybrache haben alle Unterkünfte bekommen.”, sagt er. “Die Deutschen aber alle nicht.” Allerdings meint Mario, könnten die ja auch alle zum Jobcenter und sich dort eine Wohnung vermitteln lassen. Für ihn selbst komme das selbstverständlich nicht in Frage, denn er möchte sich nicht vom Staat abhängig machen. “Ich bin frei.”, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. Er erzählt von seiner Zeit auf der Cuvrybrache. “Ich hab eineinhalb Jahre da gelebt und hatte mir da ein Haus gebaut. Aber dann kam die Polizei und hat alles platt gemacht.” Mario wird wehmütig, die Trauer steht ihm ins Gesicht geschrieben. Auf dem Gelände hätte er sich zuhause gefühlt und die für ihn wichtigsten Menschen gehabt. “Das ist meine Familie und die haben einfach alles was da war kaputtgemacht.”
Fred fängt an von Anarchie zu philosophieren. “Das was wir hier machen, das ist für mich Anarchie.”, sagt er. “Wir tun, was wir wollen, aber friedlich und ohne irgendjemandem etwas zu tun.” Dagegen sei die Gesellschaft mit Gewalt über sie hereingebrochen und hätte sie aus ihrem Leben gerissen. Diese Mehrheitsgesellschaft hätte irgendwann gesagt, dass sie nicht mehr auf der Cuvrybrache wohnen sollten. “Wenn wir dann sagen, wir wollen hier bleiben, dann schicken sie ihre behelmten Soldaten. Die Demokratie lässt uns einfach räumen.”
Politiker*innen hätten sich genauso wenig blicken lassen, wie die Aktivist*innen von der Refugeebewegung. Einzig und allein die Anwohnenden der Cuvrybrache hätten ab und an von ihrem Sperrmüll Matratzen oder Baumaterial vorbeigebracht. Einzeln hätte es auch Essensspenden gegeben, erzählt Fred. Ansonsten hätte Kreuzberg sie ignoriert.
“Und das hier als Hausbesetzer-Bezirk.”, schimpft er. “Das war hier mal so, mitlerweile leben die doch selbst alle in geregelten Mietverhältnissen oder haben gekauft. Die letzte besetzte Fläche in Kreuzberg wurde geräumt und niemand regt sich auf. Jetzt kriegen sie ihre tollen Luxuswohnungen und Einkaufszentren, aber dann gucken sie alle ganz groß, wenn sie sich in fünf Jahren die Mieten auch nicht mehr hier leisten können.”, sagt er weiter. Auf die Vergangenheit angesprochen von zum Beispiel dem aktuellen Baustadtrat Hans Panhoff, der früher selbst in besetzten Häusern gelebt hat, meint Fred nur, dass er nicht bewerte, was ein Mensch getan hat, sondern nur, was er gerade tue. “Jeder kann sich mal ändern.”, sagt er lakonisch.
Mario zieht für sich Bilanz. “Ich bau mir nie wieder ein Haus. Klar besetze ich noch, aber nur in einem Zelt. Das war das dritte Mal dass die ein Haus von mir kaputtgemacht haben, nie wieder.” Natürlich gab es an der Cuvrybrache auch Streit, meint Fred. Aber im großen und ganzen sei es friedlich gewesen. In jeder WG prügelten sich die Leute wegen schmutziger Kaffeetassen, das sei dort nicht anders gewesen. Notunterkünfte kommen für sie nicht in Frage. Krankheiten und Gewalt würden dort vorherrschen. “Da schlaf ich lieber bei Kälte auf der Straße.”, sagt Mario.
Währenddessen hat der Gitarrist Begleitung bekommen. Jemand gesellte sich zu ihm und trommelt nun mit Drumsticks auf alten Plastikeimern den Rhytmus. In der Gitarrentasche vor den beiden haben sich ein paar Euro angesammelt. “Ich hol mal Bier.”, sagt Fred, nimmt sich ein paar Münzen aus der Tasche und geht zum nächsten Späti.
*Name geändert
Update: Sowohl Berliner Zeitung (“Ehemalige Cuvrybrachen-Bewohner schlafen jetzt auf der Oberbaumbrücke“), als auch die B.Z. (“Von der Cuvry-Brache unter die Oberbaumbrücke“) titelten mit den Menschen von der Oberbaumbrücke. Dabei machten sie sich aber weder die Mühe, die Gedanken der Menschen in ihren kurzen Artikeln abzudrucken, noch die Realtität wiederzugeben. Der Ort an der Cuvrybrache ist nicht die neue Heimstatt, sondern dient als Treffpunkt – so wie er es übrigens auch schon vor der Räumung für die Menschen gedient hat.
Social tagging: cuvry > cuvrybrache > flüchtlinge > kreuzberg > süsskind
Die armen deutschen Privilegen-Kids, die mal auf Aussteiger machen und dort jetzt nicht mehr wohnen können. Das ist ja wirklich tragisch.
Geil auch der Satz: “In jeder WG prügelten sich die Leute wegen schmutziger Kaffeetassen, das sei dort nicht anders gewesen.” -> in meinen WGs war und ist das nicht so. Wer das friedlich findet, sollte vielleicht seinen anarchistischen Ansatz noch mal gründlich überdenken.
Übrigens kommen Frauen in eurem Alltagsreport nur an einer Stelle vor “Mario* hat ab und an seine Augen offen, während sich seine Freundin stumm an seine Seite klammert.” Wieso ist sie in eurer Berichterstattung nur namensloses Anhängsel (im wahrsten Sinne des Wortes -> klammert sich an ihren Freund)?
Das ist uns ebenfalls aufgefallen, dass leider nur eine Frau in einer Rolle an der Seite vorkommt. Wir können den Umstand, dass nur eine Frau anwesend war und die gerade nicht reden wollte, allerdings auch nicht ändern.